Unter die Haut

 

Der blaue Couchstuhl mit den geschwungenen Armen. Und daneben die rubinrote Lampe mit den Blumenverzierungen aus Metall. Beides Erinnerungsstücke an sie. Ich ziehe an der Lichterkette, das warme Licht geht an.

 

Neben dieser Lampe ist meine Großmutter gesessen, wissend, dass bald Besuch kommt. Umgeben von Glasfenstern ist sie im Eingangsbereich des viel zu großen Hauses gesessen, wartend und rauchend.

Und wenn sie eine oder einen von uns Enkelkindern gesehen hat, hat sie die Arme weit geöffnet und uns entgegen gestrahlt. Ja, das konnte sie gut, das herzlich in Empfang nehmen.

 

Aber es war nicht alles herzlich an ihr.

 

Das Streben, zur gesellschaftlichen Oberschicht zu gehören, war keine Herzensentscheidung. Bestimmt nicht.

Und das Streben, aus jedem Nachkommen etwas Besonderes zu machen, das Einzigartige hervorzuholen, und stark in der Gesellschaft zu stellen, und Anerkennung zu erwarten. Das hat lange an mir genagt, an uns allen, ob wir dem Bild, das von uns erwartet wurde, standhalten und es erfüllen können.

Ob ihr bewusst war, was sie uns für einen Druck auferlegt hat? Was wollte sie damit ausgleichen, wieder gut machen? Wo wollte sie im Leben hin?

 

Ihr Haus bestand aus drei Stockwerken und vielen Zimmern. In jedem Zimmer war eine Uhr und ein Telefon. Als sie gestorben ist, habe ich mir von allen Sachen, aus denen wir wählen durften, die Lampe aus dem Eingangsbereich und ein Telefon gewünscht.

Es war ein ganz normales Tastentelefon, braun, ich habe es ein paar Jahre später wieder entsorgt, weil ich es nicht mehr verwenden könnte. Die Lampe aber spendet jeden Abend Licht in unserer Wohnung in Wien.

 

 

Das Licht in ihrem Schminkzimmer war goldgelb und heimelig. Das ganze Zimmer war in rosa gehalten, sogar ein rosa Canapé stand darinnen. Als wir Kinder waren, hat meine Großmutter es geliebt, uns mit Haut und Haaren zu umarmen, meist nach dem Baden, frisch duftend.

Nackt aus dem Badezimmer kommend hat sie uns im Schminkzimmer mit einem großen Handtuch abgetrocknet und in die Arme genommen.

 

Ihr Haut war voll gesprenkelt mit Sommersprossen. Mein Vater und ich haben diese Haut von ihr geerbt.

 

Sie war ihr ganzes Leben rundlich und hat leicht zugenommen. Nur im Alter hat sie die Hälfte ihrer Figur ausgefüllt, die Schneiderin musste neu Maß nehmen.

 

 

Was sie wunderbar konnte, war, Geschichten zu erzählen. Mit ihr im Bett zu liegen, ihre Beine hochgelagert und die Decke frisch und weich, war einfach schön. Sie hat dann Märchen oder Geschichten, als sie klein war, erzählt. Die Geschichten aus ihrer Kindheit waren mit einem leisen Schmerz verbunden.

 

Sie hat gerne und viel gelacht. Sie war vom Aussehen und Auftreten her durch und durch eine richtige Dame, nur beim Lachen war ihr das egal, dem Lachen hat sie sich voll hingegeben.

 

Was wird uns von Generation zu Generation weitergegeben? Was bekommen wir einfach mit?

 

Am Leben ist meine Großmutter sehr gehangen. Sie wollte lange unter uns sein. 40 Jahre lang hat sie gegen verschiedene Arten des Krebses gekämpft. Wie eine Löwin gekämpft.

Erst ganz am Schluss hat sie meinem Vater im Krankenhaus auf einen Zettel geschrieben:"Bitte lasst mich sterben."

 

Ihr Tod liegt 8 Jahre zurück. Ich kann nicht sagen, ob ich oft an sie denke. Zu Lebzeiten war es unvorstellbar, nicht oft an sie zu denken, weil sie sehr dominant war. Von ihrem Haus am Mönchsberg in Salzburg hat sie am Telefon Ratschläge und Vorstellungen, Wünsche und Forderungen an uns durchgestellt?

 

Was wünsche ich mir jetzt für sie...das, was man wohl allen Verstorbenen wünscht, dass sie ihren Frieden gefunden hat.

 

 

Im Jahr 2000 wurde meine Großmutter von der Stadt Salzburg mit einem eingravierten Krug geehrt. Und jetzt liegt es plötzlich an mir, in meiner Hand, die Geschichte, ihre Geschichte neu zu schreiben.

 

Wo fange ich an?

Am Ende.

Sie ist im Sterben gelegen, da war ich mit dem ersten meiner beiden Kinder schwanger. Ich konnte nicht mehr zu ihr fahren, ich hatte Angst, dass mich ihr Sterben zu sehr mitnimmt.

Und auch, als die Wölbung meines Bauches noch kleiner war, konnte ich sie nicht besuchen. Die Vorstellung, zu ihr auf den Mönchsberg zu fahren, hat so starkes Kopfweh hervorgebracht, dass ich die Reise absagen musste.

 

Aber als Kind war ich oft bei ihr. Als Kind habe ich zwei Wochen des Sommers mit meinen Geschwistern bei ihr verbracht. Wir wurden in neue Kleider gesteckt, in unsere Haare wurden riesige Maschen gebunden, wir wurden in Restaurants ausgeführt.

Im Auto durften wir wegen dem Fahrtwind nicht das Fenster öffnen, es war brütend heiß, dafür haben wir bestimmt jeden Tag ein Eis bekommen. Wir durften viel Fernsehen, was wir zu Hause nicht durften.

 

Den restlichen Sommer verbrachten wir mit unseren Eltern auf einem Bauernhof, wo wir uns zB. So gut wie nie gewaschen haben, weil das Wasser eiskalt war.

Aber in den zwei Wochen davor, in Salzburg, wurden wir in Luxus und Genuss gehüllt.

 

Manchmal fallen mir Kleinigkeiten ein. Wie meine Großmutter einen kleinen Becher Joghurt gegessen hat, vorzugsweise Kaffeejoghurt, und das Löffel für Löffel, genüsslich.

 

Ich möchte schreiben, ohne sie zu verwunden. Vielleicht glauben manche, dass ich das so und so nicht könnte, weil sie ja nicht mehr lebt. Aber sie hat genug Schmerzen erfahren in all der Leichtigkeit, die sie verbreitet hat. Nein, ich will ihr keine Schmerzen zufügen.

 

Vielleicht geht mein Text also nicht "unter die Haut", weil er nicht aufschürft und nicht Wunden aufreißt. Mein Text streift mehr über ihre Geschichte wie meine kleine eigene Kinderhand vor vielen Jahren über die Hautfalten ihrer Hand gestrichen ist.

 

Man muss nicht jemanden zum Bluten bringen, um jemanden sichtbar zu machen. Vor allem sie nicht. Ihr Auftreten war eine einzige gekonnte Inszenierung ihrer selbst. Es kam mehrmals vor, dass sie an Ende einer Treppe mit rotem Läufer stand und wir, ihre Nachkommen, ihr applaudierten. Das war ganz einfach situationsgemäß. Es passte einfach.

 

Ich überlege, was sie mir über das Lieben gesagt hat. Den 2. Mann hat sie lange überlebt. Und zum 1.Mann hatte sie trotz Scheidung dann im Alter ein entspanntes Verhältnis.

Über meinem Schreibtisch hängt ein Bild der beiden, wo sie lachend die Köpfe zueinander neigen.

Ja, einen Satz erinnere ich mich: dass sie manchmal bei der Liebe das Gefühl gehabt habe, dass sie zu den Sternen greifen könnte.

Da ist sie im Liegestuhl gelegen und hat ihre Arme gen Himmel gehoben.

 

Was bleibt von ihr, was wird von mir einmal bleiben?

 

Wenn ich heute im Supermarkt ein Kaffeejoghurt kaufe, versuche ich, es mit genauso viel Genuss zu essen wie meine Großmutter.

Und wenn ich ihr weißen Lederstiefel trage, dann stehe ich hoch, dann stehe ich mitten im Leben. Dann breite ich die Arme auf und begrüße den Nächsten, herzlich. Wie sie es gut könnte und wie ich es eines Tages vielleicht noch besser können werde, vom Herzen aus.

 

Suni Löschner

Winter 2016/2017

 

 

Meiner Großmutter Johanna gewidmet

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Suni Löschner

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